Bericht von Lisa Wanninger über ihre Tante Thea Diem
Meine Tante Theodolinde – genannt Thea –Diem, jüngste Schwester meiner Mutter, im März 1908 geboren und wohnhaft in München- Nymphenburg. Thea besuchte mit ihren beiden älteren Schwestern die „Höhere Mädchenschule“ der Engl. Fräulein in Pasing. Wahrscheinlich mit etwa 19 Jahren erlitt Thea mehrfach epileptische Anfälle. Ihre Mutter, meine Großmutter, war überfordert. Zu dem Zeitpunkt war sie schon allein zuhaus, beide Schwestern hatten selbst Familie, mein Großvater war tagelang geschäftlich unterwegs. Es war schwierig, Thea nach einem Anfall z. B. aufs Bett zu heben. So beschlossen meine gläubigen katholischen Großeltern schließlich, Thea in die Heil- und Pflege anstalt Schönbrunn bei Dachau zu bringen. Sie dachten, dort würde sie unter der Aufsicht der Franziskanerinnen Heilung oder wenigstens Besserung erfahren. Die Familie besuchte Thea in Schönbrunn und meine Mutter nahm mich manchmal mit. Ich war so zwischen 5 und 10 Jahre alt. An ein Erlebnis dort erinnere ich mich gut, konnte es aber nicht einordnen. Meine Mutter brachte Kosmetika mit und Thea hielt einmal die Zahnpasta-Tube hoch und drückte sie zusammen. Sie freute sich sichtbar über das Ergebnis.
Eine Schwester – immer war eine Schwester anwesend bei den Besuchen – wird ihr die Tube wohl abgenommen haben. Heute denke ich, dass ein junger Mensch – immer eingesperrt und überwacht – vielleicht auch endlich einmal übermütig sein konnte und wollte. Erst vor einigen Monaten fand ich eine Ansichtskarte, adressiert an „Frl. Thea Diem“ auf der ein Franz der lieben Thea herzliche Grüße aus dem Urlaub sandte. Also Thea war ein ganz normales junges Mädchen, mit Freundschaften und so. Vielleicht hat aber auch das wiederholte Fallen auf den Kopf letztendlich Schäden ausgelöst (Thea hatte bei den Besuchen und auf Fotos nie einen Epilepsie-Schutzhelm auf – wahrscheinlich gab es noch keine). Eine andere Erinnerung an meine Tante: Zufällig war ich zu Besuch bei den Großeltern als ein Brief kam und meine Großmutter sehr zu weinen anfing. Einige Tage später, als mein Großvater nachhause kam wurde mir erzählt, dass sie sagte: ,,Karl, unser Thea ham‘s umbracht.“ Heute denke ich, die beiden wussten sehr wohl, dass etwas nicht stimmen konnte, fragten aber nicht nach. Im Brief stand weiter, dass Thea an einer Lungenentzündung gestorben sei und gegen Bezahlung eines Betrags könnten die Großeltern die Urne mit der Asche abholen. Meine Tante Theodolinde – genannt Thea – Diem Am 9. April 1941 wurde Thea zuerst von Schönbrunn nach Eglfing-Haar gebracht, von dort dann am 29. April nach Hartheim bei Linz/Österreich. Todestag im Gas wahrscheinlich am 29. April 1941. Thea war 33 Jahre jung.
Thea Diem zwischen ihren beiden Schwestern
Über das kurze Leben von Thea erfuhr ich sehr spät etwas. Die Familie hatte Scheu, davon zu sprechen, in der Zeit bis 1945 und noch danach war das Schicksal der Opfer der Krankentötungen „anrüchig“. Vielleicht hatte die Familie auch ein schlechtes Gewissen. Vor etwa 13 Jahren habe ich einmal in Schönbrunn nach Thea gefragt, die immerhin dort über 10 Jahre „wohnte“. Man ließ mich abblitzen. Erst 2007 wurde das Archiv der Franziskanerinnen öffentlich zugänglich und die Schwestern mussten u.a. mit der Erkenntnis fertig werden, dass ihre beiden angebeteten „Chefs“, Prälat Josef Steininger und Dr. Hans Joachim Sewering, nach 1945 der Präsident der Bundesärztekammer, nicht das waren, was sie vorgegeben hatten gewesen zu sein. Sewering hat ab 1942 Patienten nach Eglfing-Haar verlegt und sie damit einer tödlichen Gefahr ausgesetzt. Heute ist mein großes Anliegen, dass wenigstens Theas Namen nicht vergessen wird. Sie hat eine Grabstätte im Familiengrab am Westfriedhof in München. Meine Familie, vor allem meine Kinder und Enkelkinder, aber auch meine Freunde, wissen wie wichtig mir das Gedenken ist an Theodolinde Diem.
Es grenzt an ein Wunder, dass durch die Aufmerksamkeit und Sorgfalt der Archivarin Frau Dr. Leise im Schwabinger Krankenhaus ein unbekanntes Foto von Theadolinde und eine ebensolche Krankenakte aufgetaucht sind. Das Foto entstand etwa 1934, Thea war 26 Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie schon einen langen Weg von Untersuchungen hinter sich an dessen Ende die Diagnose Epilepsie stand. Im Oktober 1927, Thea war 19 Jahre alt, brachte die Mutter sie auf Veranlassung des Hausarztes nach Schwabing. Sie blieb dort über 2 Monate, bis Dezember 1927. Thea ging bis zu ihrem 16. Lebensjahr zu den Englischen Fräulein in Nymphenburg. Sie hat jahrelang bei der Pflege des kranken Bruders geholfen, bis dieser mit 7 Jahren starb. Sie glaubte auch deswegen den richtigen Beruf gefunden zu haben: „Kindermädchen“. Die Anfälle dauerten jedoch an und die Eltern bangten um ihre Kinder. Thea wechselte mehrfach die Familien, sie wollte ja arbeiten, auch, weil sie dachte, ihre Familie würde sie dann mehr achten. Eigentlich erst, seit sie Anfälle habe, schimpfe die Mutter oft und die Schwestern würden bevorzugt. Der Schwabinger Arzt stellte fest, dass Thea vor allem nach Aufregungen Anfälle bekam. So war es auch, als sie gerügt wurde, weil sie einen Liebesbrief an einen Arzt geschickt hatte. Wo sollte der junge Mensch auch hin mit seiner Liebe? Herausgerissen aus einer weltoffenen Familie, erste Annäherungen von jungen Burschen, mussten diese aufgegeben, weil eine unklare Krankheit drohte. Nachdem die Ärzte in Schwabing keine Besserung versprachen entschlossen sich meine Großeltern Thea nach Schönbrunn zu geben. Dort wurde sie – wie schon erwähnt – am 12.12.1927 eingewiesen. Als ich sie zuletzt sah – Anfang 1940 – war sie 29 Jahre und etwas rundlicher geworden. Ich war etwa 10 Jahre alt und die Besuche mit meiner Mutter, der anderen Schwester und der Großmutter waren für mich nicht besonders bedeutsam. Als Kind merkt man schnell, dass etwas Fremdes zwischen den Erwachsenen ist. Schon allein, dass immer eine Klosterschwester bei den Besuchen dabeistand, kam mir komisch vor. Thea lächelte, aber ich traute mich nicht mit ihr zu reden. Meine Tante Theodolinde – genannt Thea – Diem. Meine Mutter brachte kleine Geschenke mit und gab sie nicht Thea, sondern der Klosterschwester. Thea bedankte sich und dazwischen fragte man sie, ob sie arbeiten könne, was sie zu Essen bekomme und ob die Ärzte nett seien. Thea lächelte. Im Herbst 1940 bestätigte ein Fragebogen, dass Thea nicht arbeiten kann, und ein sogenannter „Meldebogen“ stellt fest, dass Thea wöchentlich 12–14 Anfälle hätte, und als Diagnose: Epilepsie und Schwachsinn. Dieses Wort Schwachsinn hat mich tief getroffen – obwohl ich weiß, dass es vielleicht nur deswegen gebraucht wurde, um einen Grund zu haben, Thea zu „selektieren“.
Mir scheint, dass Thea sehr unglücklich war, ich weiß auch nicht, ob sie Gelegenheit zum Lesen hatte, und wenn ja, was man ihr nach dem Fehlverhalten“ mit dem Liebesbrief an Literatur anbot. Sie wolle auch gern einmal ins Kino gehen, vertraute sie einem Arzt an, dürfe das aber nicht wegen der Anfälle. Wenn man gewusst hätte, dass Thea nur noch etwa 1 Jahr leben durfte: Hätte man sie aus Schönbrunn rausholen können? Wenigen Angehörigen von Patienten gelang das. Von Schönbrunn wurde Thea erst nach Haar gebracht und wenige Tage später erging folgende Anordnung die auch für Thea galt: „Gemäß Anordnung des Reichskommissars für die Reichsverteidigung im Rahmen planmäßiger Räumungsmaßnahmen am 29. April 1941 in die Anstalt Niedernhart überführt.“